Einsamkeit ist keine Krankheit

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Dr. Hontschik

Dr. Hontschik

Seine Einsamkeit kann man einem Menschen nicht ansehen. Diese andauernde verlorene Verbindung zur Welt ist unsichtbar. Einsamkeit ist keine Krankheit. Einsamkeit macht krank. Sie ist ein riesiges, immer größer werdendes Problem. Dr. Hontschik beleuchtet das Problem.

Es ist schon lange her, aber ich habe es bis heute nicht vergessen: Vor fünfzehn Jahren hatte ich das Glück, den weltberühmten Kardiologen Bernard Lown in Boston besuchen zu dürfen. Als wir uns über die Entstehung von Krankheiten austauschten, sagte er: „Ich habe mich mein ganzes Leben als Arzt mit den Krankheiten von Herz und Kreislauf beschäftigt, mit den Menschen, die herzkrank werden. Risikofaktoren, über die ständig geforscht und gesprochen wird, Cholesterin, Bluthochdruck usw. sind nebensächlich. Für das Entstehen so vieler Herz-Kreislauf-Krankheiten sind traurige, tragische Lebensumstände verantwortlich: Einsamkeit, Verzweiflung und Aussichtslosigkeit." Das hatte ich bislang so noch nicht gehört, und von einem der führenden Kardiologen hatte ich das schon gar nicht erwartet. Cholesterin nebensächlich? Hoher Blutdruck nicht so wichtig? Ich begann, mich mit dem Zusammenhang von Einsamkeit und Krankheit zu beschäftigen und stieß alsbald auf ein uraltes, sozusagen konstituierendes Dilemma des Arztberufes.

Wenn man weiß, dass insbesondere nächtlicher Fluglärm chronisch hohen Blutdruck verursacht, was sage ich einem davon betroffenen Patienten? Ist es sinnvoll, hohen Blutdruck zu behandeln, ohne die wirkliche Ursache, also den Fluglärm zu bekämpfen? Wenn man weiß, dass Herzinfarkte, Schlaganfälle, Diabetes oder Depressionen bei Menschen, die in Armut leben, sehr viel häufiger vorkommen; wenn man weiß, dass die mittlere Lebenserwartung bei Geburt bei armen Frauen mehr als vier Jahre geringer ist als bei Wohlsituierten, bei Männern beträgt diese Differenz sogar mehr als acht Jahre, wie kann ich armen Menschen helfen? Wenn ich ihre Symptome behandle und die Ursache außer Acht lasse? Wenn man weiß, dass hohe Luftverschmutzung die durchschnittliche Lungenkapazität einschränkt, Atemwegserkrankungen verursacht und eine Verkürzung der Lebenserwartung aufgrund von Herz-Kreislauf- und Atemwegs erkrankungen einschließlich Lungenkrebs bewirkt, wie lautet mein ärztlicher Rat? Wenn man weiß, dass schon Lärmpegel von 80 bis 85 dB zu dauerhaften Gehörschäden führt, was rate ich Patienten, die an einer vielbefahrenen Straße oder gar in der Nähe einer Autobahn wohnen, wo solche Werte die Regel sind?

So ist es auch mit der Einsamkeit. Man sieht jemandem die Einsamkeit ja nicht an. Diese andauernde verlorene Verbindung zur Welt ist unsichtbar. Einsamkeit ist keine Krankheit. Einsamkeit macht krank. Sie ist ein riesiges, immer größer werdendes Problem, in letzter Zeit noch potenziert durch ein unterschiedliches Ausmaß an Isolation während der Corona-Pandemie. In Großbritannien und in Japan gibt es seit einigen Jahren sogar ein Ministerium für die Bekämpfung von Einsamkeit. Ärzte können dort auf Rezept soziale Aktivitäten verschreiben. Auch hier zeigt sich wieder das Dilemma der ärztlichen Tätigkeit: Bekämpfe ich die Ursachen oder behandele und beschwichtige ich nur das Symptom?

In der Medizinerausbildung fristet die Sozialmedizin bis heute ein kümmerliches Dasein. Eine Medizin gegen Fluglärm, Luftverschmutzung, Einsamkeit oder Armut gibt es nicht und wird es wohl auch nie geben. Zu aller Nutzen wäre es aber, wenn es mehr Medizinerinnen und Mediziner gäbe, die außer der – unverzichtbar wichtigen – Behandlung der Symptome auch die eigentlichen Krankheitsursachen im Blick haben. Dieses Wissen braucht kompetente Verbreitung.

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